Das Werk
Zu der Entstehungsgeschichte des Brahms'schen Requiem
Zu der Entstehungsgeschichte des "Deutschen Requiem" bringt die Biografik häufig einander widersprechende Daten, und so sei hier die Chronologie des Werkes angeführt.
1854 entsteht unter dem Eindruck der Katastrophe um Robert Schumann in Düsseldorf ein Sarabandenthema, das für eine "Sonate für zwei Klaviere" geschrieben, aber später ausgeschieden wurde und die Grundlage für den II. Satz des "Deutschen Requiem" bildete.
1856 arbeitet Brahms hieran weiter und gestaltet aus diesem Thema den Trauermarsch und das Trio des II. Satzes. Daher ist ganz eindeutig zu konstatieren, dass der II. Satz die Wurzel des Requiems bildet und somit das gesamte Werk ganz eigentlich dem Andenken an Robert Schumann - nach dessen Tode am 29. Juli 1856 - gewidmet zu sein scheint.
1858 - 1861 komponiert Brahms den I. Satz. Der II. Satz ist zu diesem Zeitpunkt bis auf die Coda fertig.
1861 notiert sich der Komponist die Texte I bis IV des späteren Requiems auf der freien Rückseite eines Manuskriptes des vierten Magelonenliedes, sowie Tonart und Tempoangabe für die beiden ersten Sätze.
1865 entsteht in Hamburg unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter der IV. Satz. Clara Schumann lobt ihn in einem Brief an Brahms vom 1. Mai: "...Der Chor aus dem Requiem gefällt mir sehr, ich denke er muss wunderschön klingen... ich hoffe Du lässt das Requiem nicht verduften, wirst es auch nach so schönem Anfang nicht thun..."
1866 weilt Brahms im Frühjahr bei seinem Freunde Julius Allgeyer in Karlsruhe und schreibt hier an dem III. Satz. Im Juni ist Brahms in der Schweiz, vollendet den III. Satz und fügt in Zürich dem Konzept von 1861 die Texte V-VII an, dieses ist deutlich dem unterschiedlichen Duktus der Handschrift zu entnehmen. Es ist festzustellen, dass in dieser Zeit Brahms die Gesamtkonzeption des "Deutschen Requiem" klargeworden sein muss. Er komponiert in Zürich im August die Sätze VI und VII und spielt diese dann Clara Schumann in Baden-Baden vor, die in ihrem Tagebuch notiert:"...Johannes hat mir einige prachtvolle Sätze aus einem deutschen Requiem vorgespielt, dann auch ein Streichquartett in c-Moll. Das Requiem hat mich aber noch freudiger bewegt, es ist voll zarter und wieder kühner Gedanken. Wie es klingen wird, das kann ich mir nicht so klar vorstellen, aber in mir klingt es herrlich..." Die Formulierung "deutsches Requiem" fällt hier zum ersten Male. Die häufig anzutreffende Bemerkung, Brahms habe den Titel "Ein deutsches Requiem" aus Schumanns Projektenbuch entlehnt, hat Brahms selbst widerlegt, als er am 22. Dezember 1888 an Clara Schumann schreibt: "...Eben lese ich in einem Kalbeckschen (übrigens sehr schönen) Aufsatz, dass Dein Mann sich den Titel "Deutsches Requiem" notiert hatte! Das ist mir ganz neu und unerwartet, und Du wirst es wohl auch nicht wissen, hast wenigstens dessen nie erwähnt!?..."
1867 werden die ersten drei Sätze in einem Gesellschaftskonzert in Wien am 1. Dezember unter Johann Herbeck uraufgeführt. Joseph Joachim, der Ohren- und Augenzeuge dieser Aufführung war, hat in einem Brief an seine Frau, der unmittelbar nach der Aufführung geschrieben wurde, berichtet: "...Die einzige volle Freude habe ich eben gehabt, wo die drei ersten Sätze von Brahms Requiem im Gesellschafts-Concert, wenn auch unvollkommen ausgeführt, gemacht wurden. Die Musik ist auf gleicher Höhe mit der Idee des Ganzen, von einer Tiefe der Empfindung, einem Schwung der Auffassung, einer Originalität der Conception, die Brahms für mich zu einem erhabenen Menschen stempelt, dem gegenüber ich nie an Kleinigkeiten, die mir an ihm nicht recht sind, mäkeln werde. O Uzzi, könnte ich das Werk einmal so einstudieren, wie ich's fühle und Du zuhören! Wo, wann wird das sein? Ich wollte, Bronsart lernte das Stück kennen und begeisterte sich dafür, wie ich! Vielleicht ließe er es dann mit Muße in den Sommermonaten schon einstudieren, und brächte es dann nächsten Herbst. Wer weiß, wie lange Brahms noch wird schmachten müssen, ehe er es hört wie sich's gebührte. - Das Publikum hörte mit Teilnahme zu - eine kompakt kleine Partei mit Weihe und Enthusiasmus; einiges zischendes Gesindel konnte doch den Sieg nicht erringen, Brahms wurde laut gerufen, und der Beifall hielt an, obwohl er 5 Minuten lang brauchte, um vom Saal über die Treppe ins Orchester zu kommen."
1868 am Karfreitag, dem 10. April, erlebte das Werk in Bremen in der sechssätzigen Gestalt seine Uraufführung. Brahms leitete selbst die Bremer Singakademie, die Karl Martin Reinthaler sorgfältig auf die Novität vorbereitet hatte. Zwischen dem III. und IV. Satz spielte Joseph Joachim das Andante aus dem a-moll-Konzert von Johann Sebastian Bach, ein kleines Andante von Tartini und das Abendlied aus op. 85 von Robert Schumann; er begleitete seine Frau Amalie nach Schluss des "Deutschen Requiem" zu der Arie "Erbarme dich" aus der Matthäus-Passion von Bach mit Orchester und obligater Violine. Den Abschluss des "geistlichen Konzertes" bildeten die Arie "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" sowie die Chöre "Seht, das ist Gottes Lamm" und das "Halleluja" von Händel. Zu der Aufführung waren aus ganz Deutschland die Freunde von Brahms erschienen. Auch der Vater, Jakob Brahms, kam aus Hamburg herüber und genoss es sichtlich, an dem Triumph seines Sohnes teilzunehmen. Das Werk hatte einen außerordentlichen Erfolg, und Clara Schumann notierte in ihrem Tagebuch: "...Mich hat dieses Requiem ergriffen, wie nie eine Kirchenmusik... Ich musste immer, wie ich Johannes so dastehen sah mit dem Stab in der Hand, an meines teuren Roberts Prophezeiung denken - lasst den nur mal erst den Zauberstab ergreifen, und mit Orchester und Chor wirken - welche sich heute erfüllt. Der Stab wurde wirklich zum Zauberstab und bezwang Alle, sogar seine entschiedensten Feinde. Das war eine Wonne für mich, so beglückt fühlte ich mich lange nicht. Nach der Aufführung war ein Souper in Rathskeller, wo Alles jubelte - es war ein Musikfest." In einer Rede von Karl Reinthaler wurde Brahms sehr gefeiert und das Requiem als ein "Epoche machendes Werk" bezeichnet. Tatsächlich hat das "Deutsche Requiem" den Ruf des Komponisten weltweit begründet und Reinthalers Charakterisierung des Werkes ist berechtigt. Das "Deutsche Requiem" nahm bald den ersten Platz unter den größeren geistlichen Werken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, es erlebte von 1867 bis 1876 nach einer von Max Kalbeck ermittelten Statistik 85 Aufführungen und verdrängte neben anderen Oratorien auch Mendelssohns "Elias" und "Paulus" fast vollständig vom Repertoire. Nach der Bremer Aufführung kehrte Brahms nach Hamburg zurück. Hier vollendete er das Werk durch die Hinzufügung des Satzes "Ihr habt nun Traurigkeit", der im Autograph des Particells mit "Hamburg Mai 68" abgeschlossen wird. 1869 wurde schließlich das vollständige Werk am 18. Februar in Leipzig unter Karl Reinecke aufgeführt. Eduard Bernsdorf, der Kritiker der Zeitschrift "Signale für die musikalische Welt", der zehn Jahre früher das d-Moll-Klavierkonzert ein Stück von "trostloser Öde und Dürre" genannt hatte, kam nun nicht umhin, in seiner Kritik am 22. Februar 1869 zu schreiben: "...so muss man das in Rede stehende Brahms'sche Werk zu den bedeutsamsten Thaten zählen, die von unserer jüngeren und jüngsten Componisten - Generation ausgegangen sind, wie man es im Besonderen auch die bedeutendste der Brahmsschen Hervorbringungen selbst nennen muss. Vor allen Dingen gibt sich darin ein Streben nach dem Hohen und Edeln kund und, was damit zusammenhängt, das vollständige Negieren des Gewöhnlichen und Banalen..."Viel mehr als in unserem Jahrhundert beschäftigte sich der schöpferische Mensch des 19. Jahrhunderts mit den Fragen des Lebens und Sterbens. Auch die Komponisten setzten sich mit diesen Fragen auseinander und schufen in ihren Requiem-Vertonungen individuelle Bekenntnisse, in denen der Ausdruck der Liebe gegenüber dem des Schmerzes dominiert. Johannes Brahms hat in seinem "Deutschen Requiem" Bibelstellen aus dem Alten und Neuen Testament zusammengefasst und dabei keineswegs an eine Verbindung mit der kirchlichen Liturgie gedacht. Seine Frömmigkeit ist mehr die schicksalhafte Ergebenheit in das Unabänderliche. Nur so ist die Beschäftigung mit der Bibel bei Brahms zu verstehen. Seine Musik und der zusammengestellte Text wollen, losgelöst von jeder Konfession, trösten, die Vergänglichkeit des Menschlichen beschwörend. Über allem erhebt sich bei Brahms der Glaube an die Liebe in völlig undogmatischem Denken, was den tief religiösen Antonin Dvorak 1896 zu dem Ausspruch veranlasste: "Solch ein Mensch, solch eine Seele! Und er glaubt an nichts, er glaubt an nichts!" Brahms hebt im "Deutschen Requiem" die Klage über das Sterben an, seine Schöpfung ist allgemein menschlich, und das brachte er zum Ausdruck, als er Karl Reinthaler schrieb: "...was den Text betrifft, will ich bekennen, daß ich recht gerne auch das "Deutsche" fortließe und einfach den "Menschen" setzte, auch mit allem Wissen und Willen Stellen wie z.B. Evang. Joh. Kap.3, Vers 16 entbehrte." Als er im Juni 1896 in Ischl mit Richard Heuberger seine "Vier ernsten Gesänge" durchging und dabei den Text "hätte ich den Glauben, schenkte ich all meine Habe den Armen, ließ ich mein Leib brennen" besprach, hat er dies noch einmal deutlich unterstrichen, als er sich zu seinem Credo bekannte: "Das alles ist, wie vieles in der Bibel, echt heidnisch, aber echt menschlich. Der Glaube allein ist nichts, alles herschenken ist auch nichts, den Leib als Märtyrer verbrennen lassen ist auch nichts, nur die Liebe!" Kurt Hofmann
Zur "Londoner Fassung":
Johannes Brahms selbst fertigte eine vierhändige Klavierfassung seines Deutschen Requiems an, die 1871 zum ersten Mal in London erklang.
Es war im 19. Jahrhundert üblich, Musik in oft vereinfachter Version für Klavierduo zu bearbeiten. Dies war in gewisser Weise der Vorläufer der Schallaufnahme, denn nur so war es für musikalische Amateure möglich, große Werke auch außerhalb des Konzertsaals zu erleben und zwar durch das eigene Spiel am Klavier. Brahms selbst bearbeitete sein Werk für Klavier vierhändig; unter anderem wohl aus Geldnot (er erhielt ein fürstliches Honorar) und aus der Überzeugung, wenn es denn sein müsse, wäre er wohl selber der beste Kandidat für die Aufgabe. Dass er diese Arbeit insgesamt für unwürdig, aber wohl notwendig hielt, geht daraus hervor, dass er sich weigerte, seinen Namen auf dem Titelblatt als Arrangeur vermerkt zu haben; und als dies dennoch geschah, ließ er auf eigene Kosten (!) die schon gedruckten Exemplare einziehen und mit neuen Titelblättern versehen, auf denen er als Arrangeur nicht mehr genannt ist. In einem Brief schreibt Brahms ironisch: "Ich habe mich der edlen Beschäftigung hingegeben, mein unsterbliches Werk auch für die vierhändige Seele genießbar zu machen. Jetzt kann´s nicht untergehen."
Die diesjährige räumliche Situation, nur das relativ kleine Herrenrefektorium zur Verfügung zu haben, gab den Ausschlag, diese Version aufzuführen. Es ist sicherlich ein neues Hörerlebnis, dieses Werk einmal nicht mit 100 Sängern zu hören, sondern in einer kleinen Besetzung, die die Stimmführung erst transparent macht. Auf diese Art verliert das Stück alle Bombastik, die es sonst leicht übergestülpt bekommt, und erscheint unmittelbar und frisch und vermag einmal mehr, Ruhe und Trost zu vermitteln.
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